Als das große Marzipanbacken ausfiel
Als das große Marzipanbacken ausfiel
Stellt euch ein kleines Dorf vor. Acht Häuser: vier große Bauernhöfe und vier kleine Häuser. Sie standen in einem Land, das es heute nicht mehr gibt, weit im Osten, vor vielen Jahren. Damals hatte ein großer Krieg gewütet. Und gerade, als alle Kanonen endlich schwiegen und das erste Weihnachtsfest in Frieden vor der Tür stand, wurden die Menschen vor einer schlimmen Krankheit heimgesucht: der Spanischen Grippe. Es war Winter und bitterkalt. Die Menschen hatten Hunger. Es hatte im Herbst nur eine kleine Ernte gegeben, weil die Männer, die die Felder bestellten, im Krieg geblieben waren, Und dann die Grippe, an der so viele erkrankten. Viele Menschen lagen im Bett, husteten, hatten hohes Fieber. Die Krankenhäuser waren überfüllt. Besonders die Kinder steckten sich oft an. Und was tat der König? Der war davongelaufen. Der neue Kanzler rief aus: Zum Schutz vor Ansteckung, bleibt zu Hause! Feiert Weihnachten ohne Opa, Oma, Tante und Onkel! Besucht nicht die Kirche! Die Kinder dürfen nicht in die Schule! Kein Händedrücken, stattdessen Hände waschen!
In unserem kleinen Dorf nun, von dem diese Geschichte erzählt, waren alle sehr aufgeregt. Denn hier gab es seit uralten Zeiten einen Brauch: An jedem der vier Adventssonnabende kamen alle Dorfbewohner in einem der großen Höfe zusammen. Und was taten sie dort? Sie backten Marzipan! Eine anstrengende Arbeit, und das Rezept war uralt und sehr geheim! Und weil die Mandeln, die man dafür brauchte, teuer waren, kauften die großen Höfe die Mandeln ein, denn hier wohnten die vier reichen Großbauern. Auf den vier kleinen Höfen wohnten die armen Kleinbauern. Auch sie durften zum Marzipanbacken kommen, mithelfen und dann ihr Marzipan für die Kinder mit nach Hause nehmen. So war es seit eh und je in dem kleinen Dorf im Osten: Hier sorgte man füreinander.
Aber was sollte nun werden? Der Kanzler hatte Besuche verboten!
Ach, schaut einmal: Dort auf der verschneiten Dorfstraße kommen gerade die beiden Großbäuerinnen Irmela Allenstein und Hermine Wendik. Hören wir uns an, was sie sagen:
„Herminchen, wie schön dich zu sehen!“
„Herrjechen, Irmchen, geht es dir gut? Sind die Kinderchen gesund?“
„Danke, danke, ja, ja, den Kinderchen geht es gut. Geht es deinen Kinderchen auch gut?“
„Das Mariechen liegt im Bett. Aber es ist nicht die Grippe, sagt der Doktor, nur eine Erkältung.“
„Dann pflege die kleine Marjell*, damit sie wieder auf die Beine kommt.“
„Freilich, Irmchen, das werde ich schon tun. Es ist ja nicht die böse Grippe, die sie piesackt. Es ist aber schon ein Ärger mit dieser Grippe!“
„Mein Reden, Herminchen, es ist ein Ärger mit der bösen Grippe.“
„Ein Ärger, Irmchen, wo ich doch schon sechs Kilochen Mandeln gekauft habe von wegen der Marzipanbäckerei.“
„Herrjechen, sechs Kilochen Mandeln! Wo wir doch kein Marzipan backen dürfen, Herminchen, von wegen des Verbots von das gemeinsame Herumhocken in der Stube. Damit wir nicht alle krank werden vonder schlimmen Grippe.“
„Ach, es ist wirklich ein Ärger mit der schlimmen Grippe. Vor allem wegen der Mandelchen.“
„Ach, ach, Herminchen, da kann man wohl nichts machen. Der Kanzler hat‘s gesagt. Und wenn’s der Kanzler gesagt hat, dann geht es nicht. Aber wie schade für die armen Kinderchen. Und für die alten Leutchen, die klabastrig** sind und so gern zusammen am Ofen hocken und plachandern***.“
„Ach, ach, ach, es ist ein Jammer, Irmchen.“
„Ja, Herminchen, es ist ein Jammer.“
Einen Moment schauen die beiden Frauen die verschneite Dorfstraße entlang. Dann sagt Irmela:
„Herminchen, mir kommt da was in meinen Dassel****.“
„Was kommt dir in deinen Dassel, Irmchen?“
„Was der Herr Kanzler gesagt hat. Herminchen. Und der Herr Doktor aus Goldap hat’s auch gesagt.“
„Was haben der Herr Kanzler und der Herr Doktor gesagt, Irmchen?“
„Dass wir die böse Grippe nur in der Stube kriegen, Herminchen. Aber nicht an der frischen Luft.“
Irmela sah ihre Freundin erfreut an.
„Herminchen, du hattest einen guten Gedanken in deinem Dassel!“
Und dann stapften die beiden Frauen emsig nach Hause.
Drei Tage später war Heiligabend. Ruhig und friedlich lag das Dorf im Schnee, während der Himmel langsam dunkler wurde. Hier und da wurden in den Fenstern die Lichter angezündet. Da hörte man plötzlich einen lauten Ton: Mööööööp! Was war das? Gardinen bewegten sich, neugierige Gesichter erschienen an den Fenstern. Da hörte man es wieder: Mööööp! Hier und da gingen die Fenster auf. Einige Leute traten sogar vor ihre Haustüren. Dort, vor dem großen Hof der Wendiks, standen der Bauer und seine Frau mit ihren Kindern. Bauer Wendik hielt eine mächtige, glänzende Posaune in der Hand. Und aus dieser kam das Mööööp. Als aus allen Häusern die Menschen herausschauten, rief Bauer Wendik:
„Liebe Freunde! Wir dürfen nicht gemeinsam in der Stube hocken. Aber hier bei uns auf dem Land, da haben wir jede Menge frische Luft. Hier dürfen wir sein. Lasst uns ein Weihnachtslied singen!“
Dann hob er seine Posaune an die Lippen und schmetterte ein helles „Oh du fröhliche“ drauflos, und seine Frau Hermine und all ihre Kinderchen sangen laut mit. Da fielen sie alle mit ein: die Großbauern und die Kleinbauern samt ihrer Frauen, die Jungen und Mädchen. Alle sangen sie unter dem klaren Sternenhimmel, ein Weihnachtslied nach dem anderen. Und die Lieder schwebten durch die Heilige Nacht und waren weit über die verschneiten Felder zu hören.
Und was war aus den sechs Kilo Mandeln geworden? Aus zweien hatte die gute Hermine ihr eigenes Marzipan gebacken. Die restlichen Mandeln hatte sie in vier gleich große Portionen aufgeteilt und sie vor die Türen der Kleinbauernfamilien gestellt. So waren auch die armen Kinder in diesem Jahr an ihr Marzipan gekommen.
* Marjell = ostpreußisches Wort für „Mädchen“, ** klabastrig = alt und nicht mehr ganz so fit, *** plachandern = schwatzen, **** Dassel = Kopf Autor: Ulli Soak
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